Standard-Deutsch

1904

Standard-Deutsch

Standard-Deutsch

Bahnhof Marburg

  • Globale Erwärmung seit Industrialisierung
  • Der erste Duden gilt als verbindlich für das Deutsche Reich, Österreich, Schweiz
1901 werden die in den Jahren zuvor teilweise heftig diskutierten Reformbestrebungen der deutschen Orthografie als verbindlich festgelegt. Erstmals lernen alle Schülerinnen und Schüler (gegendert wird allerdings erst später) im Deutschen Reich (wie auch in Österreich, der Schweiz und in Liechtenstein) die deutsche Sprache nach offiziell vorgegebenen Regeln. Dies bringt den - oberflächlich möglicherweise als widersprüchlich zu empfindenden - Effekt mit sich, dass das nun offiziell gültige Hochdeutsch dem Namen gemäß in "Hochdeutschland" und die damit im Süden entstandene Form des Deutschen im Norden des Reiches deutlicher und so gut wie ohne mundartliche Klangfarbe gesprochen wird. Südlich der über Jahrhunderte hinweg gültigen Sprachgrenze (Benrath-Linie oder "mach-mak-Linie) hatte sich die Zweite (hochdeutsche) Lautverschiebung zwar nach und nach durchgesetzt, aber nur unvollständig. Im Norden, wo das Niederdeutsche sich lange Zeit jeglicher Lautverschiebung verweigerte, muss nun die gültige Standardsprache wie eine Fremdsprache mit allen Regeln erlernt werden. Zu Vermischungen verschiedener Dialektvarietäten kommt es nicht. Was der südlich der Sprachgrenze geborene und aufgewachsene Verfasser dieses Artikels nicht mehr als anerkennen kann, bleiben seine eigenen sprachlich zu lokalisierenden Wurzeln doch durch ein rollendes "R" und ein wie "sch" klingendes "ch" dauerhaft bestimmbar. 
 
War Konrad Duden noch getrieben von der Idee, dass eine deutsche Orthografie eine demokratische sein sollte und sich an die italienische Rechtschreibung anlehnte - als Gegenentwurf zu eher aristokratisch und rückwärtsgewandten Orthografien in anderen Sprachen - so scheint sich dieser Gedanke - zunächst allerdings nur - zu bestätigen. 
 
Nach dem 1. Weltkrieg und im Zuge der Weltwirtschaftskrise politisiert sich die deutsche Sprache. Und sie wird zur Sprache der Massenpresse und des Sports. Es kommt zu Konnotationen (Bedeutungsverschiebungen). Diese Entwicklung lässt sich an Bezeichnungen wie "Rasse", "Arier", "Jude"... festmachen. Positiver besetzt werden mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus Begriffe wie Volksgenosse, "deusche Mutter", "deutsches Wesen", wobei der Begriff "deutsch" im Sinne einer genaueren Bestimmung generell und immer häufiger in Wort-Paaren auftaucht. Superlative übernehmen immer häufiger die Rolle als gewöhnliche Steigerungsform. Begriffe aus der Biologie wie Organismus, Wirtsvolk, Parasiten und (Volks-)Körper finden in soziokulturellen Bereichen ihren unerwarteten Gebrauch. Bezeichnungen wie "radikal", "total", "fanatisch", "gigantisch", zuvor eher mit Maß und vorsichtig Verwendung findend, werden positiv besetzt. Religiöse Begriffe wie "Heil", "Glaube", "ewig", "Unsterblichkeit", "Opfergang" und "Bekenntnis" drängen ins politische Vokabular, verstärkt durch erstmals medial inszenierte und religiös anmutende Rituale. In den Krieg soll man "wie in einen Gottesdienst" hineingehen. Andererseits vernebeln euphemistische Umschreibungen wie "Konzentrationslager", "Endlösung" und "Sonderbehandlung" nicht nur die dahinter steckenden Verbrechen, sondern ermöglichen der mehr oder weniger an diesen Gräueltaten beteiligten oder zumindest davon Kenntnis besitzenden Gesellschaft eine gewisse Selbstberuhigung. 
 
Nach dem Ende des 2. Weltkriegs liegt nicht nur das "Land der Dichter und Denker" in Trümmern; es hat auch die bürgerliche Sprachkultur ihren über sachliche Aspekte wie beispielsweise die richtige Orthografie hinausgehenden Anspruch auf moralische und kulturelle Wegweisung verloren. Das (amerikanische) Englisch dominierte die konkret erlebbare Kultur in Musik und Film vor allem der jüngeren Bevölkerung. Große Teile der älteren Generation ziehen sich hingegen auf deutschsprachige, aber unverfängliche Kulturprodukte wie die volkstümliche Musik oder den Heimatfilm zurück.
 
Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen aus ehemals deutsch oder zumindest teilweise deutsch besiedelten Gebieten im Osten bringen ihre Dialekte mit in den Westen - und geben diese spätestens mit der darauffolgenden Generation auf. Letztendlich ein verspätetes zweites Entschwinden von "Heimat", der die Endgültigkeit des territorialen Verlustes der "eigenen Scholle" unterstreicht. Dieser Bedeutungsverlust der Dialekte wird in den Zeiten des Wiederaufbaus allerdings zunächst kaum wahrgenommen, auch weil davon die gesamte deutsche Bevölkerung betroffen ist. Mundarten als Alltagssprache verlieren gegenüber der Verwendung der Standardsprache nicht nur an Bedeutung, sondern stigmatisieren den Sprechenden ebenso als einen eher rückständigen, ungebildeten und aus bildungsfernen dörflichen Strukturen stammenden Mitbürger. Die Erkenntnis der Unsinnigkeit einer solchen Bewertung soll sich erst später durchsetzen.
 
Die Entstehung der Deutschen Demokratischen Republik und ihre 41-jährige Existenz neben der Bundesrepublik Deutschland bringt zwar keine neue oder zusätzliche deutsche Sprache mit sich, dennoch entstehen zumindest hinsichtlich der Terminologie Unterschiede. Dies ist vor allem in den Bereichen der Politik und Wirtschaft zu erkennen. 1952 entsteht an der Akademie der Wissenschaften der DDR das "Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache". Die DDR-Regierung will neben den existierenden Varianten der deutschen Sprache (Westdeutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein) eine weitere etablieren. Teilweise steuert das neue Wirtschaftssystem zwangsläufig zusätzliche Begriffe bei, die sich um "Kollektiv", "Kader", "Kombinat", "Kommission", Klasse", "Volk" und natürlich "Sozialismus" gruppieren und die aufgrund der zahlreichen für die im Deutschen typischen Kombinationsmöglichkeiten von Wörtern anwachsen. Die Art der Arbeitsteilung in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) schafft Berufe wie den "Besamungstechniker". 
Andere Termini ändern sich (Papier- bzw. "Tempo"-Taschentuch zu Zellstofftaschentuch, Altenheim zu Feierabendheim, Zweizimmerwohnung zu Zweiraumwohnung, Hähnchen zu Broiler, Plastik zu Plaste ...). Die "operative Zielstellung" einer dauerhaften linguistischen Distanzierung vom politischen Klassenfeind erledigt sich jedoch 1989.
 
Rechtschreibreform 1986; 1996 erste Wörterbücher, 2004 und 2006 Reform der Reform
 
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